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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis……………………………………………………………………...S. 1
Einleitung - Was ist „literarische Onomastik“?...........................................................S. 2
- Worin unterscheidet sich reale von literarischer Namengebung?................S. 3
- Klassifikationsversuche literarischer Namen…………………………….…..S. 4
- Namennennung im Werk…………………………….………………………..S. 10
- Die Funktionen des Namens in der Literatur
4.1 Identifizierung………………………………………………………………S. 11
4.2 Illusionsbildung…………………………………………………………….S. 12
4.3 Kennzeichnung …………………………………………………………….S. 13
4.4 Charakterisierung
4.4.1.Charakterisierende Namen……………………………….………….S. 17
4.4.1.1 Sprechende Namen ……………………………………………..S. 18
4.4.1.2 Klingende Namen………………………………………………..S. 18
4.4.1.3 Präfigurierte Namen………………………….……………..…..S. 19
4.4.2 Charakteristische Namen………………………………………..……S. 20
4.5 Akzentuierung ………………………………………………………....……S. 21
4.6 Perspektivierung……………………………………………………………S. 24
Schlussbemerkung……………………………………………………………………...S. 25
Literaturverzeichnis…………………………………………………………………….S. 26
Literarische Onomastik
Einleitung - Was ist „literarische Onomastik“?
Jeder Name bezeichnet ein Individuum, ein Kollektiv oder einen Ort.
Die literarische Onomastik ist der Forschungsbereich, der sich mit der Benennung von Figuren innerhalb literarischer Werke beschäftigt.
Die literarische Onomastik ist jedoch keine fest umrissene Disziplin, - sie ist eher als Sammelbecken zu verstehen, welches für Studien in Frage kommt, die sich mit den Namen in der Literatur beschäftigen. Dies schließt sowohl Studien über Grund und Zweck der Benennung als auch die unterschiedlichen Funktionen der Namen selbst mit ein. Hierzu gehört zum Beispiel die Intention des Autors bei der Vergabe eines Namens oder die Analyse der Namentheorien einzelner Dichter.
Die Benennung von Figuren in der Literatur dient nicht der Bezeichnung von Individuen, sondern es wird die Möglichkeit zur Namen-Bedeutsamkeit poetisch genutzt. „Im Kunstwerk gibt es keine nichtssagenden Namen….Alle Namen sagen etwas aus. Jeder Name, der im Werk genannt wird, ist bereits eine Kennzeichnung, die in allen Farben spielt, die ihr nun zur Verfügung stehen.“.
Äußerst wichtig bei der Betrachtung der literarischen Onomastik ist das Verhältnis des Autors zur benannten Figur, - noch wichtiger jedoch das des Lesers zur benannten Figur, welches durch den Autor impliziert wird.
Der literarische Name ist in seiner Funktion nicht mit dem realen Namen gleichzusetzen. Viel mehr ist der literarische Name als Teil des Kunstwerks in das Werk mit eingebunden. Diese Art der Eingebundenheit zu beschreiben ist Aufgabe der literarischen Onomastik.
1. Worin unterscheidet sich reale von literarischer Namengebung?
Bereits Aristoteles beschäftigte sich mit der Namengebung in der Literatur. Er unterscheidet hier überlieferte oder bekannte Namen von beliebigen oder erdichteten Namen, spricht den ersten jedoch ausschließliche Verwendung in der Tragödie, den zweiten Verwendung in der Komödie zu. Aristoteles versteht unter den überlieferten Namen solche wie Iphigenie oder Julius Caesar und unter den erdichteten solche wie Frodo und Bilbo (aus J. R. Tolkiens „The Lord of the Rings“) aber auch nicht-geschichtliche Namen wie Katharina Künstler oder Henry Schmitt.
Hendrik Birus nimmt eine andere Unterscheidung vor:
Reale Namen besitzen eine referentielle Deixis und verweisen auf Personen, die in der Wirklichkeit existent sind und hier identifiziert werden können, bzw. einmal identifiziert werden konnten.
Wenn wir jedoch in der Literatur Figuren mit erdichteten oder auch scheinbar realen Namen benennen, zum Beispiel Napoleon oder Bismarck, so sind dies trotzdem nur Figuren, welche mit der realen Person oft ausschließlich den Namen gemeinsam haben. Diese fiktiven Figuren mit real-literarischem Namen können im Vergleich zu echten Personen nur rein sprachlich identifiziert werden, da sich ihre Existenz auf rein sprachlicher Ebene abspielt.
Die Motivation bei der Benennung von realen Personen kann unterschiedliche Gründe haben. Im Gegensatz zum Autor eines Werkes, welcher in der Regel vor allem auf die Bedeutsamkeit der zu vergebenen Namen achtet, hat der Privatmensch bei der Benennung von Sohn und Tochter vor allem den Wohlklang oder eine Familientradition im Auge. Insbesondere wenn ein Personenname nach dem Klang ausgesucht wird, entscheidet das persönliche Empfinden des Benennenden.
Sonderfälle stellen die Gruppen der Pseudonyme, Beinamen und Spitznamen dar. Diese referieren auf Eigenschaften des Benannten und charakterisieren ihn somit. Dies trifft auf reale Personen ebenso wie auf fiktive Figuren zu.
Oftmals orientieren sich die Werkschreiber allerdings am zeitgenössischen Wortschatz bzw. am zeitgenössischen Namengut. Beispielhaft hierzu sind Goethes Romane „Wahlverwandtschaften“ und „Anton Reiser“, in denen der Name Mittler „eine stets um Ausgleich bemühte, aber letztlich unglückliche Figur (Ver-Mittler)“ bezeichnet.
Kurz gesagt gilt jeder in einem literarischen Text auftretende Name als literarischer Name, der eine Figur, einen Ort oder eine Sache benennt zum Zwecke der individualisierenden Benennung.
2. Klassifikationsversuche literarischer Namen
Klassifikationsversuche zur literarischern Onomastik gibt es viele. An dieser Stelle sollen aus diesem Grund nur die fünf wichtigsten genannt werden, die für ihre Zeit weisend gewesen sind.
In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellte Rudnyckyi folgende Funktionstypologie literarischer Namen auf:
1. relevance to the contence
a) relevance to the quality of literary characters (meaningful names)
b) relevance to the place of action (couleur locale)
c) relevance to the time of action (couleur historique)
2. relevance to the form
Seine Klassifikationsversuche sind jedoch in einigen Bereichen wenig trennscharf. In der Untergruppe 1 a werden viele verschiedene Namentypen, wie zum Beispiel redende Namen oder auch klangsymbolische Namen, zusammengefasst, ohne diese weiter zu spezifizieren.
Die Zugehörigkeit zu den Gruppen 1b und 1c ist ebenfalls schwierig abzugrenzen, da diverse Namen sowohl der einen, als auch der anderen Kategorie zugeordnet werden können, denn ein typischer Name eines „Norddeutschen“ hört sich gewiss heute anders an als noch im frühen Mittelalter.
Birus stellt ein weiteres Klassifikationsmodell, diesmal von dem russischen Literaturwissenschaftler Michajlov vor. Michajlov schrieb einen Artikel über „Die Eigennamen der Figuren der russischen Belletristik des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre Funktion und ihre Wortbildung“. Michajlov ist weitaus trennschärfer in seiner Kategorisierung und kategorisiert darüber hinaus detailreicher:
1. Eigennamen, die die Funktion der semantischen Charakterisierung haben
2. Eigennamen, die hauptsächlich eine allgemein-expressive Funktion erfüllen,
aber nicht die Funktion der semantischen Charakterisierung besitzen
3. a) Eigennamen, die hauptsächlich die Funktion eines Hinweises auf die soziale
Zugehörigkeit der Person erfüllen
3. b) Eigennamen, die hauptsächlich die Funktion der Konkretisierung und
individualisierenden Hervorhebung erfüllen
3. c) reale Eigennamen historischer Figuren, die als Person literarischer Werke
oder als historische Reminiszenzen vorkommen, aber auch reale historische Eigennamen, die als metaphorische Benennung ausgenutzt werden
Dieser Klassifikationsversuch Michajlovs weist zwar einige Klassen mehr als Rudnyckyis Versuch auf, jedoch ist es immer noch so, dass zu viele verschiedene Möglichkeiten bei der Intention der Namengebung in einer Klasse zusammentreffen. Außerdem sortiert Michajlov Beispiele ein und des selben Namentypus in unterschiedliche Klassen ein: Die Namen „Gutdenker“, „Wahrheitsliebender“, „Einschüchterer“ und „Haltsmaul“ ordnet er in die Klasse 1 ein, Namen wie „Scharfsinniger“, „Liebling“ oder „Lumerjan“ jedoch in Klasse 2. Die Gründe hierfür lassen sich allein aus der Kategorisierung nicht entnehmen.
Birus beschäftigte sich ebenfalls mit dem Kategorisierungsversuch Migliorinis und hielt diesen zwar für besser gelungen als die Versuche Michajilovs und Rudnyckyis, aber noch nicht für perfekt.
Die Kategorisierung Migliorinis lautet wie folgt:
1. Namen, die auf eine bestimmte Persönlichkeit anspielen
2. Namen, die in unbestimmter Weise ein bestimmtes Milieu evozieren
3. Namen, deren Klang einen unbestimmten Symbolwert hat
4. Durchsichtige oder redende Namen
Die Vorteile dieser Klassifikation sieht Birus vor allem darin, dass sie sich in ihren Hauptgesichtspunkten an der alltagssprachlichen Namenwahl orientiert. Außerdem ist Birus der Meinung, dass die durch Migliorinis gebildeten Kategorien mit den in der Poetik-Tradition thematisierten „Spielarten literarischer Namen kompatibel“ sind und somit trotz fehlendem Vollständigkeitsanspruch ein höheres Maß an Wissenschaftlichkeit bedienen.
Da Birus die bisher entwickelten Systeme und Typologien zu literarischen Namen zu unvollständig oder zu wenig trennscharf waren, entwickelte er ein eigenes System.

Abb. 1
entnommen aus: Kunze, S. 196
Unter den „verkörperten Namen“ versteht Birus literarische Eigennamen, „deren Semantisierung vornehmlich auf der Kontiguitätsassoziation eines bereits … existierenden Trägers dieses Namens und dessen Eigenschaften beruht“. Dies soll heißen, dass in diese Kategorie so genannte präfigurierende Namen gehören, welche auf einen real existenten Namenträger oder einen bereits aus der Literatur bekannten Träger eines Namens referieren. So sollen Merkmale der Person mit Hilfe der Vorstellungskraft des Lesers auf die nachbenannte Figur übertragen werden. Beispiele lassen sich für Namen dieser Kategorie zuhauf finden. So zum Beispiel Schillers „Wallenstein“ oder Goethes „Faust“, aber auch die „Gräfin Melusine Ghiberti“ in Fontanes „Stechlin“.
Als „klassifizierende Namen“ bezeichnet Birus solche, „deren Semantisierung vornehmlich auf der Kontiguitätsassoziation bestimmter … Gruppen von Namenträgern beruht, die durch den allgemeinen Sprachgebrauch oder aber durch feste literarische Konventionen bedingt ist“. Dies bedeutet, dass Birus in diese Klassifikationsgruppe Namen einordnet, welche den Namenträger auf Grund bestimmter Merkmale in Gruppen einordnet. Solche Gruppen sind beispielsweise auf Grund der Religion oder auf Grund sozialer Merkmale zu bestimmen. In fast jedem Werk präsent, die Kategorisierung nach dem Geschlecht. Beispielhaft für diese Kategorie sind die Namen Anne und Adam, die die Namenträger in die Kategorie weiblich, bzw. männlich einteilt.
Als zur Kategorie der „klangsymbolischen Namen“ zugehörige Namen bezeichnet Birus solche Namen, „deren Semantisierung vornehmlich auf ihren ikonischen Qualitäten … beruht“. Dies soll heißen, dass Namen, die aufgrund ihrer Onomatopoesie bestimmte semantische Annahmen evozieren, dieser Gruppe zuzuordnen sind. Außerdem gehören in diese Kategorie Namen, die auf Grund ihrer Synästhesie (= Mitempfindung) bestimmte Vorstellungen beim Leser wecken. Beispiele hierfür sind die Namen der fünf Söhne des Schulmeisters Klopfstock aus Brentanos „Märchen“. Die fünf Männer sind nach ihren Berufen benannt: Gripsgraps (Dieb), Piffpaff (Jäger), Pinkepank (Apotheker), Pitschpatsch (Fuhrmann) und Trilltrall (Sänger). Ein weiteres Beispiel hierzu aus Marie von Ebner-Eschenbachs „Die Freiherren von Gemperlein“: mit dem Namen „Freiherr von Gemperlein“ verbindet der Leser Unbeholfenheit und Ungeschick.
Die letzte Kategorie Birus´ bezeichnet die „redenden Namen“, „deren Semantisierung vornehmlich auf der – sei es etymologisch oder sei es sekundär motiviert – Similaritätsassoziation von Elementen des allgemeinen Wortschatzes beruht“. Mit dieser Aussage kategorisiert Birus die Namen, die auf Grund ihrer wörtlichen Bedeutung dem Leser etwas über die benannte Figur vermitteln. Beispiele für diese Kategorie sind „Hofmarschall von Kalb“ oder „Clawdia Chauchat“.
Birus legt über diese vier Kategorien jedoch ein weiteres Schema, welches sich in horizontale Zeilen und vertikale Spalten aufteilt.
Es gibt zwei horizontale Achsen: Kontiguität und Similarität. Unter Kontiguität ist in diesem Falle zu verstehen, dass Namen der Gruppen „verkörperte Namen“ und „klassifizierende Namen“ folgendes gemeinsames Merkmal aufweisen: Sinnbildung wird bei diesen Namen dadurch erreicht, dass zwischen Namen und Namenträgern, bzw. Namen und Gruppen von Namenträgern eine Kontiguitätsassoziation erreicht wird. Dies bedeutet, dass für den Leser eine semantische Verbundenheit (lat. contiguus „angrenzend, anstoßend, zusammenhängend”) zwischen Bezeichnung (Name) und Bezeichnetem (Namensträger) besteht, welche sich gegenseitig bedingt.
Die zweite horizontale Achse ist die der Similarität. Hierunter sind Namen der Gruppen „klangsymbolische Namen“ und „redende Namen“ einzuordnen. Sie besitzen das gemeinsame Merkmal, dass durch Aufbau einer Similaritätsassoziation Sinn gebildet wird. Das bedeutet, dass zwischen dem Bezeichneten (Namensträger) und der Bezeichnung (Name) eine Ähnlichkeit (lat. similis „ähnlich”) besteht.
Die vertikalen Kategorien des Systems sind „nicht-einzelsprachlich“ und „einzelsprachlich“. Der Kategorie „nicht-einzelsprachlich“ sind die „verkörperten Namen“ und die „klangsymbolischen Namen“ zuzuordnen. In dieser Kategorie kommen Similaritäts- und Kontiguitätsassoziationen besser zur Geltung, da der Name in allen Sprachen gleich klingt und nicht übersetzt werden muss. So zum Beispiel der Name des Schiffs „Titanic“ im Film „Titanic“, welcher auf der ganzen Welt gleich hieß.
In die Gruppe der einzelsprachlichen Namen ordnet Birus die „klassifizierenden Namen“ und die „redenden Namen“. Diese Namen müssten, um im Ausland verstanden zu werden, zunächst übersetzt werden. Dies ist jedoch nicht immer ohne weiteres möglich und macht es dem Leser umso schwieriger Similaritäts- und Kontiguitätsassoziationen herzustellen. Ein Beispiel hierfür ist die Übersetzung des Namens Johann (deutsch) in John (engl.), Jean (franz.) oder Ivan (russ.).
Neben diesen horizontalen und vertikalen Achsen entwarf Birus, um sein System zu vervollständigen, außerdem zwei diagonale Achsen, die die vier Hauptkategorien wiederum unterteilen in „individuell“ und „seriell“.
Die Achse der „individuellen“ Semantisierung schafft eine Gruppe, zu der die „verkörperten Namen“ und die „redenden Namen“ gehören. Diese können als Appellativnamen zusammengefasst werden, da sie eine Charakterisierungsfunktion für den Bezeichneten erfüllen. Ein Beispiel hierfür ist der Name „Nabal“, welcher Tor bedeutet und seinem Träger die Eigenschaft der Torheit zuspricht.
Die Achse der „seriellen“ Semantisierung hingegen schafft eine Gruppe, zu welcher die „klangsymbolischen“ und die „klassifizierenden“ Namen gehören. Typisch für Namen dieser Gruppe ist es, dass sie sich entweder kontrastiv oder analog zu den Namen eines literarischen Werkes zeigen. So kommt es im Werk zu einer Erwartungserfüllung oder einer Erwartungsenttäuschung. Ein Beispiel hierzu aus Johannes Bobrowskis Roman „Levins Mühle“: in diesem Roman tragen Polen deutsche Namen und umgekehrt. Dies sorgt zunächst für Verwirrung beim Leser.
Ein weiteres System, von Lamping entworfen, beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Funktionen, die ein literarischer Name im Werk haben kann. Dieses System ist teils kongruent mit dem von Birus entworfenen Klassifikationsmodell.
Ich lege die Funktionstypologie Lampings meiner Arbeit zu Grunde, da ich sie zum einen in Bezug auf Übersichtlichkeit für am besten geeignet halte und zum anderen, weil die von ihm gewählten Kategorien mir am sinnvollsten erscheinen. Die einzelnen Kategorien beschäftigen sich mit den Funktionen des literarischen Namens innerhalb des literarischen Werkes.
3. Namennennung im Werk
Unter Namennennung versteht man die erste Benennung einer Figur innerhalb eines literarischen Werkes mit einem Namen. Diese erste namentliche Erwähnung geschieht zumeist beim ersten Auftritt der Figur. Bei Hauptfiguren und weiteren tragenden Figuren eines Werkes fällt die Erstbenennung oft mit dem Beginn des Werkes zusammen.
Die Benennung einer Figur geht in der Regel einher mit einer Vorstellung derselben. Meist erfährt der Leser bei der Namennennung oder gar durch die Namennennung, wichtige Personalien der Figuren. So zum Beispiel das Geschlecht, die Herkunft, den Beruf, etc.
Das Wissen des Lesers über eine Figur hängt von dem Zeitpunkt ab, zu welchem eine Figur namentlich eingeführt wird, und ob zu diesem Zeitpunkt bereits etwas über die Figur oder gar durch die Figur gesagt wurde. Das Vorwissen, das sich der Leser über eine Figur angeeignet hat, kann umso größer sein, je weiter der Zeitpunkt des ersten Erscheinens oder der ersten Erwähnung einer Figur und der Zeitpunkt der Namennennung auseinander liegen. In diesem Fall sind Eigenschaften der Figur für den Leser zu diesem Zeitpunkt bereits bestimmt. So hat sich „Dr. phil. Serenus Zeitblom“ aus Th. Manns „Doktor Faustus“ bereits durch einleitende Worte zu einer ihn betreffenden Mitteilung in den Vordergrund gedrängt und profiliert, noch bevor er seinen Namen nannte.
Das Gegenteil hierzu ist, wenn ein literarisches Werk bereits mit einem so genannten Identifizierungssatz beginnt. In einem solchen Identifizierungssatz wird eine Figur namentlich vorgestellt. In diesem Fall ist das Vorwissen, welches der Leser über eine Figur hat, äußerst gering, denn das erste, was der Leser über diese Figur erfährt, ist, dass sie existiert.
Auf Grund seiner Leseerfahrung kann der Autor jedoch davon ausgehen, dass der Leser beim Lesen eines Identifizierungssatzes der Art: „Susanne kam durch die linke Tür ins Zimmer.“ einen bestimmten Grad an Vorwissen mitbringt. Der Leser wird wissen, bzw. annehmen, dass es sich bei „Susanne“ um ein Einzelwesen des Typus Mensch handelt.
4. Die Funktionen des Namens in der Literatur
4.1 Identifizierung
Die Identifizierung ist die allgemeine Funktion des Namens und somit Grundfunktion.
Die Benennung einer Figur hat primär den Zweck, diese von anderen Figuren zu unterscheiden. Die Benennung einer Figur macht dann Sinn, wenn sie auf Grund genannter Eigenschaften von anderen Figuren unterschieden werden kann. Somit wird einer literarischen Figur ein Name zugesprochen, um sie „aus einer möglichen Gruppe anonymer Figuren“ herauszuheben. Es macht im Gegenzug jedoch keinen Sinn, jeden Kämpfer eines Kreuzzuges zu benennen, wenn zwischen den einzeln Benannten keine Unterschiede bestehen. Hier spricht man besser weiterhin im Kollektiv von „den Kreuzrittern“.
Ein weiterer simpler Grund für die Benennung von Figuren ist die Wiedererkennbarkeit innerhalb des literarischen Werkes. Charakterliche Eigenschaften können nur durch den Leser einer Figur zugeordnet werden, wenn eine Verbindung zu der entsprechenden Figur besteht. Dies erreicht der Autor durch die Schaffung einer Namenkontinuität. Jedoch ist es nicht in allen literarischen Werken der Fall, dass eine Figur durchgehend mit demselben Namen benannt wird. Der Wechsel eines Figurennamens stellt sich als Sonderfall dar:
Der Wechsel des Namens einer Figur innerhalb der Literatur hat gleichzeitig eine Veränderung der Figur zur Folge oder ist Ausdruck dieser Veränderung. Das wohl berühmteste Beispiel ist der Wechsel des Namens des Jesus-Jüngers Saulus in Paulus. Diese Namenänderung drückt im höchsten Maße einen Gesinnungswandel der Figur/ Person aus.
Laut Thomas Mann ist die Benennung mit einem Namen „die kürzeste Art, sich über eine Person zu verständigen“. Hiermit ist gemeint, dass die Nennung eines Namens ausreicht um sich die mit dieser Person/ Figur verbundenen Eigenschaften in das Gedächtnis zu rufen.
4.2 Illusionsbildung
Fontane beschreibt die Illusionsbildung in einer Erzählung als die Anstrengung, „eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit“ darzustellen.
Sieht man die literarische Figur im Kontext dieser Aussage, so dient der literarische Name vor allem dazu, dem Leser die benannte literarische Figur als reale Person zu suggerieren. Werden die fiktiven Figuren in der Literatur für den Leser zu realen Personen, so erscheint dem Leser auch eine Welt der Fiktion als eine Welt der Wirklichkeit.
In dieser Form machen sich Autoren bekannte Namen zu Nutzen, indem sie durch die Benennung der Figur mit einem solchen Namen auf diese Person referieren und der Leser sich auf Grund seines Vorwissens schneller auf die „fiktive Realität“ einlassen kann, auf diesen Sonderfall werde ich jedoch in Punkt 4.4.1.3 näher eingehen.
Die Erwähnung eines Namens innerhalb einer Erzählung genügt unserem Gehirn bereits, um sich eine „reale“ Person vorstellen zu können. Doch nicht nur das, auch schlichte Kürzel genügen hierzu: „Es war spät abends, als K. eintraf…“. Der Mensch hat hier auf Grund der bereits gemachten Leseerfahrung eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut: mit der Abkürzung „K.“ bringt der Leser direkt ein menschliches Wesen in Verbindung. Wohl kaum kommt jemand auf die Idee, hinter dem eintretenden „K.“ ein Kaninchen oder eine Katze zu vermuten.
Um eine Figur oder einen Gegenstand illusionistisch darzustellen, muss dieser nur in Grenzen beschrieben sein. Ebenso wie echte Personen Unbestimmtheitsstellen aufweisen, wird dies auch bei fiktiven Figuren durch den Leser angenommen. Eine fiktive Figur besteht somit aus einer Mischung aus Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Voraussetzung zur Illusionsbildung ist hierbei allerdings, dass in den vom Autor bestimmten Merkmalen Hinweise auf die unbestimmten gegeben werden. Dies ermöglicht dem Leser Stellen der Unbestimmtheit zu füllen und sich so eine vollständig erscheinende Figur zusammenzubauen.
Wird innerhalb eines literarischen Werkes ein Name genannt, so stellt sich der Leser eine vollständige Person vor, deren Einzelheiten bis dahin jedoch noch nicht näher bestimmt sind.
Bei der Illusionsbildung in Bezug auf eine Figur kann der Name als Illusion bildender Faktor nur dann alleine stehen, wenn die Figur, die der Name umschreibt, viele Unbestimmtheitsstellen hat und haben soll. Dies ist vor allem dann gegeben, wenn eine Figur lediglich als Typ und nicht als Individuum auftritt. Soll die Figur nun aber einen höheren Anteil an Bestimmtheitsstellen haben, also zu einem Individuum werden, so vermag der Name allein es nicht mehr, die Funktion der Illusionsbildung zu übernehmen, denn „er kann die Illusion initiieren, auch komplettieren und intensivieren, kaum aber allein bewirken“.
4.3 Kennzeichnung
Der Name, der einer Figur gegeben wird, klassifiziert diese. Das bedeutet, dass der Autor mit der Vergabe eines Namens an eine Figur diese einer speziellen Gruppe zuordnet.
So lässt sich (im Regelfall) am Namen das Geschlecht der Figur erkennen. Der Name „Oskar Matzerath“ aus Grass` „Die Blechtrommel“ benennt eindeutig ein männliches Wesen, während der Name „Jenny Treibel“ aus Fontanes „Frau Jenny Treibel“ eindeutig eine weibliche Figur kennzeichnet.
Auch kann der Name einer Figur Hinweise auf deren soziale Schicht, bzw. den Stand der Figur geben. Als Beispiel hierfür sollen die Namen „von Poggenpuhl“ und „Müller“ dienen. Der Leser bringt mit dem Namen „von Poggenpuhl“, ohne sich zuvor ein Bild über die so benannte Figur gemacht zu haben, eine Figur aus einer gehobenen Schicht in Verbindung. Im Vergleich hierzu wird der Name Müller eher als gewöhnlicher Name eines gewöhnlichen Menschen aus bürgerlichen Kreisen wahrgenommen.
Auch die religiöse Zugehörigkeit einer Figur kann sich bereits durch deren Namen ausdrücken. So ruft der Name Ibrahim Bassa aus dem gleichnamigen Trauerspiel von Daniel Lohenstein beim Leser bereits im Titel die Vorstellung eines muslimischen Mannes hervor. Vergleicht man hiermit einen Namen wie Johannes Haßdenteufel, so kommt dieser als typisch christlicher Name in den Sinn oder ein Name wie Blumenthal als typisch jüdischer Name.
Auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche kann durch die Namengebung dem Leser verdeutlicht werden, ebenso wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation (Etienne vs. Anna) oder gar Region.
Insbesondere Thomas Mann verwand bei der Benennung seiner Figuren immer große Mühe darauf, deren Namen in Bezug auf die Region, aus der sie entstammen, zu vergeben. Die folgende Grafik soll dazu dienen, vorstehende Behauptung zu belegen.
Abb. 2
entnommen aus: Kunze, S. 196
Oben stehende Übersicht beschäftigt sich mit der Genese der Namen in Thomas Manns „Die Buddenbrooks“.
In der ersten horizontalen Reihe befinden sich Namen, mit welchen verschiedene Figuren im Laufe der Textgenese benannt waren. In unserem Beispiel finden sich die Namen „Johann Peter Buttenbrock“, „Conra“ und „Anton Kämp“.
Da Thomas Mann diese Namen auf Grund von Bedeutung, Klangfärbung oder Kennzeichnung als nicht passend zur Figur erschienen, entschloss er sich diese Namen abzuändern.
Der Familienname Buttenbrock wurde von Mann als zu Hart in der Klangfärbung empfunden. Er fand, dass der Name zu wenig niederdeutsch klingt. Er entschloss sich den Namen in einen hanseatischer klingenden Namen, Buddenbrook umzuändern. Dieser Name klingt weicher auf Grund des Austausches der Konsonantenfolge „tt“ mit „dd“ und dem nun lang gesprochenen o-Laut, welcher das „k“ am Ende des Namens weicher klingen lässt.
Der Vorname Johann Peter wurde von Mann als zu ehrlich empfunden (Johann von Johannes dem Täufer; Peter von Petrus, der Fels der christlichen Kirche). Er entschloss sich, die Figur mit dem Vornamen Thomas zu benennen, da dieser eher dem zwiespältigen Charakter der Figur, welche mit den Familientraditionen bricht, gerecht wird. Der Name Thomas geht auf das aramäische Wort „teoma“ für Zwilling zurück und deutet somit auf die Zweigesichtigkeit der Figur.
Aus der Figur Conra machte Mann eine Figur, deren Vorname „Bendix“ und deren Nachname „Grünlich“ sich kontrastiv gegenüberstehen. Der Vorname „Bendix“ hat einen christlichen Ursprung, kommt von Benedictus, der Gesegnete. Der Nachname „Grünlich“ spielt auf die Farbe grün an. Das Suffix –lich macht aus dem Wort „grün“ „grünlich“ und impliziert eine leicht schimmernde Färbung. So steht der christliche Vorname mit dem heuchlerisch schillernden Nachnamen in Kontrast und kommt so in Kongruenz mit dem Charakter der so benannten Figur.
Aus der Figur „Anton Kämp“ macht Thomas Mann „Alois Permaneder“, da die erste Benennung der Figur Mann zu wenig bairisch klang. Der Name „Alois“ wird abgeleitet von der ursprünglichen Form „Alawis“. Dieser Name setzt sich aus den Wörtern „al“ = „sehr“ und „wis“ = „weise“ zusammen.“. Der Nachname „Permaneder“ kommt von „permanere“ und bedeutet „beharren/ stagnieren“. Hier soll noch einmal auf die in Manns Empfinden typisch bayerische Lebenseinstellung hingewiesen werden, welche er als traditionell und störrisch empfindet.
Es ist jedoch so, dass geographische, epochale oder nach dem Glauben auftretende Unterschiede in der Vergabe der Namen nicht alleine zu sehen sind, sondern ein komplexes System bilden. Diese Unterschiede „bestehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern durchdringen sich wechselseitig“. Mit solchen Überlegungen bei der Benennung einer Figur schafft der Autor von Anfang an ein Vorwissen beim Leser, sobald dieser den Namen der Figur liest. Der Autor kreiert hierdurch eine Erwartungshaltung und erleichtert somit die Bildung der Illusion beim Leser.
Damit solche Effekte jedoch beim Leser tatsächlich eintreten können, ist es wichtig, dass der Leser einen bestimmten Grad an Vorwissen/ Erfahrung mitbringt. Denn würde der Roman „Die Buddenbrooks“ von einem Franzosen gelesen werden, so hätte dieser vermutlich nicht das Vermögen die Namen der entsprechenden Region zuzuordnen.
4.4 Charakterisierung
4.4.1.Charakterisierende Namen
Ein Name wirkt in der Literatur über die reine Bezeichnungsfunktion hinaus, denn er wird häufig vom Autor als Mittel der Charakterisierung eingesetzt.
Eine Figur kann bereits durch ihren Namen charakterisiert werden. Diese Charakterisierung ist jedoch nicht mit Hilfe aller Namen möglich. Nur Namen, die eine Bedeutung haben oder zumindest evozieren, sind hierzu geeignet. Bestimmte Begriffe wecken beim Menschen einer bestimmten Zeit und Gesellschaft bestimmte Vorstellungen und Assoziationen. Diese Tatsache kann sich der Autor zu Nutze machen indem er eine Figur „Frau Wolff“ oder „Wehrhahn“ (aus „Der Biberpelz von G. Hauptmann) nennt. Durch diese Namen bringt der Leser stereotype Eigenschaften dieser Tiere mit den entsprechenden Personen in Verbindung. Frau Wolff ist die Wölfin, die intelligent kämpfend ihr Rudel, ihre Familie verteidigt; Wehrhahn ist der stolzierende Hahn der über den Hof marschiert, jedoch nicht ernst genommen wird.
Damit man jedoch von Charakterisierung durch einen Namen sprechen kann, muss zwischen dem Namen der Figur und ihrem Wesen eine Übereinstimmung oder Verbindung bestehen. Hier kann das volkstümliche `nomen est omen´ zu Hilfe genommen werden, welches immer dann bemüht wird, wenn zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung eine Kongruenz entdeckt wird.
Insgesamt können drei Haupttypen der charakterisierenden Namen unterschieden werden. Eine eindeutige Abgrenzung zwischen diesen drei Haupttypen ist nicht immer möglich, da die Grenzen häufig verwischen können.
4.4.1.1 Sprechende Namen
Am häufigsten kommen in der Literatur Namen vor, die mit Hilfe von Wortspielen oder speziellen Kontextbildungen homonyme Apellativa als Ausgangspunkt haben. Diese bezeichnet man als „redende“ oder „sprechende“ Namen.
Sprechende Namen charakterisieren die benannte Figur durch ihre Wortbedeutung. So wird in Schillers „Kabale und Liebe“ der Hofmarschall von Kalb allein durch seinen Namen als dümmlicher und wenig eigenständiger Mensch dargestellt.
Auch gehören symbolische oder metaphorische Namen zur Gruppe der sprechenden Namen. Im „Zauberberg“ von Thomas Mann wir die Figur der Clawdia Chauchat fast allein durch Übersetzung des Namens charakterisiert. Im Vornamen befindet sich das englische Wort „claw“, welches Kralle heißt und auf die Gefährlichkeit der Figur hinweist. Der Nachname „Chauchat“ referiert auf das französische chaud chat, heiße Katze und deutet eine weiblich-listige Ausstrahlung mit hohem Gehalt an Erotik an. Hinzu kommt, dass die Figur Clawdia Chauchat Russin ist und die russische Form des Namens „Klawdia“ heißt. Dieser Umstand deutet noch stärker auf Manns Überlegungen und Absichten bei der Benennung der Figur hin.
Gelegentlich führt eine Verminderung der semantischen Transparenz zur Verschlüsselung oder Verfremdung des Namens. Dies bedeutet, dass es in höchstem Maße notwendig ist solche Namen genau zu betrachten, zu analysieren und zu interpretieren.
4.4.1.2 Klingende Namen
oder klangsymbolische Namen
Wenn ein Name keine historisch gewachsene oder neu erfundene Bedeutsamkeit innehat, so besteht die Möglichkeit, dass der Name auf Grund seiner Lautgestalt etwas ausdrückt.
Klingende Namen charakterisieren nicht durch ihre Bedeutung, bzw. die Bedeutung des reinen Wortes, sondern durch ihre Phonetik, also ihren Klang. Die Bedeutung des Namens entsteht in diesem Fall durch Lautmalerei und Lautsymbolik.
Lautmalende Namen imitieren mit Hilfe von sprachlichen Lauten nichtsprachliche Klänge. Ein exemplarisches Beispiel hierfür findet sich in Brentanos „Italienische Märchen“: die fünf Söhne des Schulmeisters Klopfstock sind nach ihren Berufen benannt: Gripsgraps (Dieb), Piffpaff (Jäger), Pinkepank (Apotheker), Pitschpatsch (Fuhrmann) und Trilltrall (Sänger).
Lautsymbolische Namen ahmen nicht akustische Phänomene nach, sondern bedeuten nichtakustische. Ein Beispiel hierzu aus Marie von Ebner-Eschenbachs „Die Freiherren von Gemperlein“: mit dem Namen „Freiherr von Gemperlein“ verbindet der Leser Unbeholfenheit und Ungeschick.
4.4.1.3 Präfigurierte Namen
Präfigurierende Namen sind in hohem Maße anspielungsreiche Namen, denn sie beziehen sich auf das Vorwissen des Lesers, in diesem Fall auf bekannte Personen aus der Geschichte oder Mythologie, bzw. auf bekannte Figuren aus der Literatur. Der Verweis auf den historischen Träger macht die Bedeutung des Namens aus und kann nur durch ihn existieren.
Ein Name hat auf Grund seiner historischen Entwicklung ein gewisses Maß an Bedeutsamkeit erlangt, welche durch die Nachbenennung erneut aktualisiert wird.
Ein Beispiel hierfür ist die „Gräfin Melusine Ghiberti“ in Fontanes „Stechlin“, welche auf die mythische Sagengestalt Melusine zurückgreift, deren Thematik auch in diversen Artusromanen behandelt wurde. Sie tritt als Wasserfee auf, die sich samstäglich in einen Schlangenmenschen verwandelt und sich und den Männern auf Grund ihres dunklen Geheimnisses bei diesem Anblick nur Unglück bringt.
Ähnlich wie im vorstehenden Beispiel werden Namen, welche von bekannten Personen oder Figuren entlehnt werden, mit den jeweiligen Vorbildern in Verbindung gebracht. Hierdurch entsteht bereits beim erstmaligen Lesen des Namens eine Vorstellung der benannten Figur auf Grund des angesprochenen Vorwissens über den entlehnten Namen. Solche Namen (Napoleon) sind von großem evokativem Potential, da dem Leser aus der Geschichte bekannt. Es ist aber Fakt, dass sich dieses Potential nur uneingeschränkt entfalten kann, wenn es beim Leser auf entsprechendes Vorwissen trifft.
Auch der Sonderfall, bei welchem eine Figur in der Literatur eine Person der Realität darstellen soll, kommt vor. Aber auch in diesem Fall haben fiktive Figur und reale Person nur den Namen gemein. Die Figur ist nur als sprachliches Gebilde existent und darf mit der realen Person nicht gleichgestellt werden. Die in der Literatur sprachlich existente Figur ist Erfindung des Autors und dessen subjektiven Ansichten unterworfen. Somit ist die literarische Figur, egal ob sie einen bekannten Namen wie zum Beispiel „Don Carlos“ oder „Johanna von Orleans“ trägt, ausschließlich kontextabhängig zu identifizieren und somit nicht real.
Die hier genannten und benannten Figuren ermöglichen es dem Leser, sich weiter auf die Illusionsbildung des Werks einzulassen. Dadurch, dass etwas offenbar tatsächlich geschehen ist, wird es für den Leser real. Deshalb sind Figuren wie Don Carlos oder Wallenstein nicht um ihrer selbst willen nach den realen Vorbildern benannt da sie nicht eigentlich gemeint sind, sondern sie sollen als Beispiel für das allgemein Mögliche stehen.
2.4.2 Charakteristische Namen
Charakteristische Namen kennzeichnen eine Figur nicht, sie passen nur zu ihr. Der Mensch nimmt an, dass es eine natürliche Ähnlichkeit zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung gibt.
Beispielsweise hat der Name „Müller“ zwar eine lexikalische Bedeutung, ist jedoch nicht (zwingend) charakterisierend, sondern lediglich charakteristisch. Der Name „Müller“ steht hier für eine Person, die in ihrem Auftreten oder Charakter gewöhnlich ist, nichts Besonderes. Durch die Häufigkeit des Namens wird dieser Effekt zusätzlich verstärkt.
Charakteristische Namen werden jedoch erst durch Stereotype der entsprechenden Gesellschaft wirkungsvoll. So würde der Name „Müller“ bei einer Übersetzung ins Chinesische nicht die gewünschte Wirkung erzielen, denn solche Effekte bei der Benennung mit einem Namen werden erst durch Assoziationen, welche beim Leser hervorgerufen werden, sinnvoll.
Die interpretatorische Leistung besteht darin, die Beziehung zwischen dem gegebenen Name und dem Charakter der Figur zu finden.
4.5 Akzentuierung
Durch die spezielle Vergabe eines bestimmten Namens an eine Figur, kann auf diese Figur in besonderem Maße hingewiesen werden. Besondere Namen verweisen auf besondere Figuren. Die Hervorhebung einer Figur durch Abweichung im Namen meint eine Abweichung von der „Gewohnheit des Namengebrauchs im jeweiligen literarischen Werk oder von der üblichen Namenverwendung überhaupt“.
„Die Akzentuierung ist ein Mittel, die Sonderstellung einiger Figuren zu betonen und sie von anderen abzuheben.“.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten einen Namen im Vergleich zu den übrigen herauszustellen.
Eine Möglichkeit ist es, einen einzigartigen Namen oder einen Namen mit seltener Verwendung für eine Figur zu wählen. Ein Beispiel hierfür aus Thomas Manns „Tonio Kröger“: Der Protagonist Tonio Kröger fällt auf Grund seines außergewöhnlichen Namens in der Münchener Kunstszene des 19. Jahrhunderts auf. Der Vorname Tonio ist eine Kurzform des italienischen Antonio. Dieser ausländische Vorname ist darüber hinaus weiter mit einem hanseatischen Nachnamen kombiniert. Dieser fällt in der Umgebung mindestens genauso auf wie der italienische Vorname. Dieser ungewöhnliche Name steht für die Sonderstellung des jungen Mannes in der Gesellschaft.
Eine weitere Möglichkeit, eine Figur mit Hilfe ihres Namens herauszuheben, ist die Vergabe eines fremdsprachigen Namens. Auch hierfür ließe sich das Beispiel des Tonio Kröger heranziehen, zumindest in Bezug auf den Vornamen.
Eine weitere Möglichkeit eine Figur mit Hilfe ihres Namens von den anderen Figuren abzuheben, entsteht durch die Vergabe von archaischen Namen. Dies sind Namen, welche auf Grund ihrer altertümlichen Herkunft, nicht in den zeitlichen Kontext der Erzählung passen. Ein Beispiel hierzu aus Gottfried Kellers Novelle „Hadlaub“, in welcher er dem realen Minnesänger Johannes Hadlaub, welcher im 13. Jahrhundert lebte, ein Denkmal setzte.
Ebenso vermögen besonders schöne ebenso wie besonders hässliche Namen die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. So finden sich in der Novelle „Tristan“ von Thomas Mann sowohl ein Beispiel für einen schönen Namen als auch für einen besonders hässlichen. Die beiden männlichen Hauptfiguren Spinell und Klöterjahn stehen sowohl in der Konzeption der Figuren an den unterschiedlichen Enden einer Linie, aber auch in der Vergabe des Namens. Der Großkaufmann Klöterjahn repräsentiert das bürgerliche, gesunde, starke aber auch hässliche Leben. Dies kommt in seinem hart auszusprechenden Namen zur Geltung, welcher auf männliche Geschlechtsorgane anspielt. Der Name seines Antipoden Spinell hingegen, wirkt weicher und schöner, denn er erinnert an einen Edelstein. Sein Träger ist ein exzentrischer und kränklicher Mensch, der als Künstler das Gegenteil zu Klöterjahn darstellt.
Auch überlange Namen oder extrem verkürzte Namen stellen eine Besonderheit dar und wecken das Interesse und die Aufmerksamkeit des Lesers. Einen solchen überlangen Namen findet man in Thomas Mann „Das Wunderkind“. Bibi Saccellaphylaccas ist Manns Wunderkind und stellt den typischen Künstler dar, welcher es kindlich und gleichzeitig verschlagen verstand, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Das Gegenteil hierzu, also einen besonders kurzen Namen ist in J. D. Salingers „The catcher in the rye“ („Der Fänger im Roggen“) zu finden. D. B. ist der ältere Bruder des Protagonisten Holden und arbeitet als korrupter Schriftsteller in Hollywood. Dieser Kurzname lässt die Figur als geheimnisvoll erscheinen, denn unter anderem macht sich der Leser über die Vollform der Initialen Gedanken. Hierdurch gewinnt die Figur an Aufmerksamkeit und wirkt interessanter.
Auch die Nichtbenennung einer Figur kann diese Figur aus der Masse der anderen Figuren herausheben und diese hierdurch akzentuieren. Dies liegt daran, dass die Benennung von Menschen sich durch die Geschichte und durch alle Völker zieht und somit zu einer anthropologischen Konstante geworden ist. Die Nichtbenennung wirkt somit auf den Leser geheimnisvoll und ungewöhnlich, auf alle Fälle aber akzentuierend.
Ein Beispiel für eine nicht-benannte Figur findet sich in Karl Spindlers „Der Mann ohne Namen“, in welchem Roman die Hauptfigur nicht benannt ist, oder in Hebels Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“, in welcher die Figuren ganz ohne Namen auskommen. In diesem Fall hat die Figur einen hohen Grad an Bestimmtheit und weist nur wenige Unbestimmtheitsstellen auf, zu der in dem Fall auch der Name gehört.
Die Nichtbenennung einer Figur kann jedoch auch andere Gründe haben. Sie trifft auf Figuren zu, die innerhalb des literarischen Werkes lediglich eine Randstellung haben. Diese Figuren sind als Individuum für den Fortgang der Handlung weitgehend unerheblich und werden daher nicht näher bestimmt. Solche Figuren sind beispielsweise Postboten, Chauffeure oder Zimmermädchen.
Auch Menschenmassen werden der Gruppe der Namenlosen zugeordnet. Oftmals ist dann nur von „den Demonstranten“ oder „dem aufgebrachten Volk“ die Rede, ohne Individuen aus der Masse herauszugreifen und sie zu benennen.
Durch Akzentuierung können auch bestimmte Figurenkonstellationen angedeutet werden. Eine Ähnlichkeit der Namen kann auf ähnliche Figuren hindeuten. Beispielhaft hierzu sind die Figuren Lucinde und Lucidor in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ von Goethe. Auch der Kontrast zueinander stehender Figuren kann durch deren Benennung beleuchtet werden. Ein Sonderfall hierzu kann aus Fontanes “Frau Jenny Treibel“ angeführt werden. Fontane vergibt an zwei Damen chiastisch angeordnete Namen. Das bedeutet, dass die Namen der Frauen im Vergleich zu ihren Trägern, über Kreuz angeordnet sind. Die eine Figur trägt einen Namen, der zu der anderen Figur besser passen würde, und umgekehrt. Die eine ist von kräftiger Statur und mit dem Namen „Ziegenhals“ benannt, welcher jedoch beim Leser Assoziationen von einer eher dünnen und vielleicht auch strengen Frau wach ruft. Im Kontrast hierzu steht das Fräulein von Bomst. Auf diese Dame würden die Assoziationen, welche bei dem Namen „Ziegenhals“ aufkommen, passen. Ihr Name hingegen lässt den Leser zunächst an eine dickliche und behäbige, vielleicht auch dümmliche Dame denken. Diese Eigenschaften treffen jedoch eher auf „Majorin von Ziegenhals“ zu.
4.6 Perspektivierung
Der Name, der einer Figur verliehen wird, kann Ausdruck der Beziehung der Figur zum Sprecher sein. Auch dem Leser wird so eine bestimmte Perspektive angeboten. Eine Figur kann innerhalb eines literarischen Werkes durch mehrere Namen, bzw. Namenvarianten benannt sein. So kann der ganze Name, ein Namenteil, Vor- oder Nachname, eine Koseform des Namens oder gar eine Diminutivform verwandt werden. Hierzu einige Beispiele:
In Thomas Manns „Buddenbrooks“ werden für Johann Buddenbrook, in Abhängigkeit von der Figur, die über ihn/ mit ihm spricht, unterschiedliche Namen verwendet. So werden für Konsul Johann (Jean) Buddenbrook neben den Namen Johann und Jean auch die Kosenamen Hanno, Hannochen oder der kleine Johann verwendet. In Nabokovs „Lolita“ wird die weibliche Hauptfigur in Abhängigkeit von der sie ansprechenden Figur, noch differenzierter jedoch in der Situation, in der sie angesprochen wird, benannt. So wird die Hauptfigur insbesondere von ihrem pädophilen Stiefvater „Humbert Humbert“ in unterschiedlichen Formen benannt. Die Benennung ist abhängig von den Personen die in diesem Moment der Benennung außerdem anwesend sind. Dies bedeutet, dass Humbert Humbert in verschiedenen Situationen unterschiedliche Rollen annimmt. Diese Rollen manifestieren sich in dem entsprechenden Namen den er seiner Stieftochter gerade gibt, um so die Rolle, in der er sich in dem Moment befindet, auszudrücken. Unterschiedliche Namen der weiblichen Hauptfigur sind Dolores, Lo, Lola, Lolita, und Dolly.
In beiden Beispielen ist es so, dass alle diese genannten Namen und Namenformen auf dieselbe Figur referieren, jedoch drücken sie durch ihre jeweilige Verwendung das Verhältnis des Benennenden zum Benannten aus. So drückt die Art der Benennung zum Beispiel Ablehnung (Herrn von Schensius in „Der unwürdige Liebhaber“, Borchardt) oder Sympathie (Effi in „Effi Briest“, Fontane), soziale Distanz (Herr Baron) oder Nähe (Charles für Charles Bovary in „Madame Bovary“, Flaubert) aus.
Schlussbemerkung
Betrachtet man die Möglichkeiten der Intention einer Namengebung, so ist zu sagen, dass ein Name unterschiedliche Funktionen und somit unterschiedliche Intentionen zugleich erfüllen kann. Im Allgemeinen ist die Funktion von Figurennamen jedoch nicht auf ein oder zwei Merkmale zu beschränken, denn in einem einzigen Figurennamen können viele verschiedene Funktionen miteinander verschmelzen.
Ein Beispiel für diese Verschmelzung ist der bereits erwähnte Name „Klöterjahn“ in Th. Manns „Tristan“. Dieser Name kennzeichnet die Figur als norddeutsche Person, als bürgerlich und klangsymbolisch wird die Person als gewöhnlich charakterisiert.
Literarische Namen beeinflussen die Atmosphäre eines Werkes, da sie durch ihren Stil, ihren Klang, ihre Wirkung auf das Werk abfärben.
Jeder Name, der innerhalb eines Kunstwerkes genannt wird, gibt dem Werk Charakter, da jeder Name für eine Figur des Werkes etwas bedeutet und somit auch für das gesamte Werk. Somit trägt jeder einzelne Name zur Gestaltung des Textes bei.
Literaturverzeichnis
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