Die Berliner Nebenfiguren der Milieustudie „Mathilde Möhring“
Gliederung
I Einleitung
II Hauptteil
- Das Kleinbürgertum
1.1 Mathildes Familie
1.1.1 Mutter Möhring
1.1.2 Vater Möhring
1.2 Nachbarn und Freunde der Möhrings
1.2.1 die alte Runtschen
1.2.2 Rechnungsrat Schultze
1.2.3 Schultzes Hausmädchen
1.2.4 die Leutnantswitwe Petermann
1.2.5 die Schmädicke
- gut-bürgerliche und adelige Gesellschaft
2.1 Hugos Familie
2.1.1 Hugo Großmann
2.1.2 Vetter Architekt
2.1.3 Schwester Aurelie
2.2 Hans Rybinski
III Fazit
I Einleitung
In der Milieu-Studie „Mathilde Möhring“ befasst sich Theodor Fontane mit dem Berliner Kleinbürgertum des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Von Theodor Fontane in den Jahren 1891 und 1895/ 96 verfasst, wurde sein beliebter Nachlassroman jedoch erst postum im Jahre 1909 in „Die Gartenlaube“ Nr. 46-52 veröffentlicht.
Fontane befasst sich in dem, in mancher Hinsicht für ihn eher untypischen Roman insbesondere mit dem Berliner Kleinbürgertum. Mit Bedauern lässt sich feststellen, dass es in diesem Roman jedoch kein kollektives Klassenbewusstsein des vierten Standes gibt (vgl. Lukás, 1964, S. 482). Jedoch erscheinen einige „plebejische“ Figuren aus dem besagten vierten Stand, die ihre moralischen und intellektuellen Fähigkeiten und Überlegenheit der gut-bürgerlichen und adeligen Gesellschaft gegenüber beweisen. Trotz der sozialen Typisierung der Fontaneschen Romanfiguren, lassen sich bei fast jedem Charakter individuelle Züge ausfindig machen, die es erlauben selbst die Nebencharaktere als Parallel- oder Kontrastgestalten zu den jeweiligen Hauptfiguren zu erkennen.
In diesem Roman Fontanes werden allerdings auch kleinbürgerliche Gestalten zu Hauptfiguren, die es erlauben einen tieferen Einblick in das kleinbürgerliche Milieu zu erhalten.
Um die Zusammenhänge besser begreifen zu können werde ich mich nun mit den Berliner Neben-Charakteren des Romans „Mathilde Möhring“ beschäftigen.
II Hauptteil
1. das Kleinbürgertum
1.1 Mathildes Familie
1.1.1 Mutter Möhring
Mutter Möhring ist aus niederer sozialer Schicht vom Lande und ohne höhere Bildung (…, und die Frau kann doch auch höchstens eine Müllertochter sein, …“ S. 8; „Und mein Vater wollte von Schule nichts wissen.“ S. 16). Sie wurde in die klassische Situation der Frau hinein erzogen. Sie hat Parallelen und Kontraste zu ihrer Tochter Mathilde, die ich im Laufe meiner Bearbeitung noch näher anführen werde.
Mutter Möhring ist den Prognosen ihrer Tochter immer etwas skeptisch zugetan und stellt diese in Frage („ du sagst das alles so hin, … und weißt doch eigentlich gar nichts.“ S. 13; <„Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, daß er bleibt?>“ S. 16).
Der Tod ihres Mannes vor sieben Jahren war für Mutter Möhring eine Art Schockerlebnis, seit dem sie in Angst lebt. Da sie von ihrer Angst erfüllt ist, reagiert sie auch aus ihr heraus. Das betrifft vor allem ihre Reaktion in materiellen Fragen. Das von Mathilde so verhasste „Weimern“ ihrer Mutter ist Ausdruck ihrer Angst („<Aber weimern ist ungebildet.>“ S. 59).
Für Mutter Möhring stellt die Runtschen eine Art lebendiges Schreckbild der Armut dar („…manchmal denk ich, es ist gar kein Unterschied mehr zwischen der Runtschen und mir.“ S. 56). Durch ihre soziale Abhängigkeit von anderen wird sie zur grauenvollen Zukunftsvision der Mutter Möhring. Die alte Runtschen verdient im fortgeschrittenen Alter ihren Lebensunterhalt damit, anderer Leute Nachttöpfe auszulehren. Mutter Möhring hat Angst ebenso zu enden.
Ein gutes Beispiel für ihre ständige Sorge um das Materielle ist die Chaiselongue, die sie bei einer Auktion erstanden haben. Sie ist das beste Stück im Haus, doch darf sich niemand darauf setzen, aus Angst, sie könne abgenutzt werden („<Warum sitzt du nu wieder auf dem harten Sofa und kannst dich nicht anlehnen. Wozu haben wir den die Chaiselongue?> <Na, doch nicht dazu.> … <Und nu denkst du gleich, du ruinierst es und sitzt ein Loch hinein.>“ S. 15).
Mutter Möhring berechnet immer die möglichen Verluste, während ihre Tochter Mathilde immer die Vorteile berechnet („<Thilde, das läuft so ins Geld. Und man weiß doch nicht, wenn er dann kündigt.>“ S. 30; „…sie berechnet immer, was es kostet, und ich rechne mir den Vorteil aus.“ S.100).
Durch den frühen Tod ihres Mannes ist das Einkommen der Familie Möhring stark begrenzt. Die kleine Mutter-Tochter-Familie muss sich mit allerlei Nebentätigkeiten finanziell über Wasser halten. Hinzu kommt, dass sie in ihrer kleinen Wohnung ein unbenutztes Zimmer haben das sie vermieten können um weiteres Geld in den Haushalt zu bekommen.
Vor dem Tode ihres Mannes ist es der kleinbürgerlichen Mutter Möhring nicht nötig gewesen ein Zimmer zu vermieten oder Nebentätigkeiten auszuführen („…sie werden vermieten, und weil es eine Studentengegend ist, so werden sie`s an einen Studenten vermieten…“ S.
. Das Haus in der Georgenstraße 19 wird von den Möhrings im vierten Stock bewohnt. Dies bedeutet in der Milieu-Enge des 19. Jahrhunderts in der gesellschaftlichen Stellung von niederem Rang zu sein. So ist es auch bei Mutter Möhring, bei der der gesellschaftliche Abstiegsmechanismus nach dem Tod ihres Mannes eingesetzt hat. Dies erklärt auch ihre Angst vor weiterem gesellschaftlichem Abstieg, beziehungsweise vor ökonomischer und sozialer Deklassierung („<Denn du bist ewig in einer Todesangst und glaubst immer noch, es wird nichts werden und alles ist umsonst gewesen und alles ausgegeben. Das ist immer deine Hauptangst. Und wenn du diese Angst kriegst, dann machst du dich klein und jämmerlich …“> S. 71). Sie setzt sich hiergegen auf mannigfaltige Weise zur Wehr, so zum Beispiel bei der Diskussion ob ihre Wohnung nun vier Treppen hoch sei oder doch nur drei, weil im Erdgeschoss kleine Läden untergebracht sind und diese schließlich nicht zählten („…was jeder gelten ließ mit Ausnahme der Möhrings, die, je nachdem diese Frage entschieden wurde, drei oder vier Treppen hoch wohnten, was neben der gesellschaftlichen auch eine gewisse praktische Bedeutung für sie hatte.“ S 7).
Mutter Möhring ist es nicht möglich zwischen der Realität des Lebens und der Kunst des Theaters zu unterscheiden. Nach dem Besuch einer Vorstellung liegt sie noch lange wach und denkt über das weitere Dasein der Figuren nach. Insbesondere ist sie um einen alten Mann besorgt, der ihrer finanziellen Situation sehr ähnlich kommt („<Sieh doch mal nach Thilde, wer der alte Diener ist; er zittert ja so furchtbar.>“ S. 31; „Und die Alte war immer noch bei dem Stück.“ S. 33).
Als feststeht, dass Hugo und ihre Tochter Mathilde heiraten würden, so sieht sie Hugo als Hoffnungsanker, „denn gut is er doch eigentlich und wird eine alte Frau nich umkommen lassen.“ (S. 67).
Mutter Möhring hat außerdem zu jeder Gelegenheit ein passendes Sprichwort bereit. Diese auf Situationen anzuwenden verleiht ihr ein Gefühl der Sicherheit („<Wenn man den Deibel ruft, is er da.>“ S. 72).
1.1.2 Vater Möhring
Der Vater von Mathilde Möhring ist bereits vor sieben Jahren verstorben und tritt daher nicht persönlich im Roman auf. Er war bis zu seinem Tode als Buchhalter in einem Kleider-Exportgeschäft beschäftigt gewesen (vgl. S. 7). Als er Palmsonntag, den Tag vor Mathildes Einsegnung verstarb, waren seine letzten Worte an Mathilde: „Mathilde, halte dich propper!“ (S. 7). Diese Worte sollten für die Familie, aber insbesondere für Mathilde prägend werden und den weiteren Verlauf ihrer beider Leben stark beeinflussen. Lediglich an der Bedeutung dieser Aussage wurde noch einige Zeit gerätselt. So hat jeder seine individuelle Auslegung der letzten Worte des Vater Möhring für sich gefunden. Mutter Möhring und der Pastor sind der Ansicht es handle sich hierbei um eine moralische Ermahnung an die Tochter, Rechnungsrat Schultze sah es in finanzieller Hinsicht: er war der Meinung seine letzten Worte haben sich im Sinne seiner Arbeit im Dienste des Kleider-Exportgeschäft bezogen und haben die Intension des Spruches „Kleider machen Leute“. Mathilde sieht die letzten Worte die ihr Vater an sie richtete allerdings in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht. So bleibt sie stets bemüht ihre gesetzten Ziele durch geschicktes Kalkül durchzubringen.
Mathildes Vater war ein für diese Zeit sehr fortschrittlicher Mann, was sich vor allem in der Erziehung seiner Tochter widerspiegelte. So schickte er Mathilde auf eine gute Schule und ermöglichte ihr eine Ausbildung zur Lehrerin zu beginnen. Jedoch kam sein früher Tod bevor sie diese beenden konnte („un wenn dein Vater länger gelebt hätte, wärst du jetzt Lehrerin, wie du`s wolltest.“ S.19).
So lässt sich abschließend sagen, dass Vater Möhring ein guter und fortschrittlicher Mann gewesen ist, dem sehr viel am Glück seiner Tochter lag. Durch seine Erziehung und seine letzten Worte wurde die Hauptfigur des Romans, Mathilde in ihrem Leben stark beeinflusst.
1.2 Nachbarn und Freunde der Möhrings
1.2.1 die alte Runtschen
Die alte Runtschen wird von Familie Möhring beschäftigt, als Hugo, der Jurastudent und spätere Ehemann Mathildes zu den Möhrings ins „Chambre garnie“ zieht. Sie soll das Zimmer sauber halten und die Lebensmittel einholen („ …dass sie drüben reinmachen kann und alles einholen.“ S. 29).
Die alte Runtschen tritt im Roman als abschreckende Person auf und das in mancherlei Hinsicht. Zunächst einmal wirkt sie auf den ästhetisch-empfindlichen Hugo erschreckend („ …er graule sich vor der Runtschen…Solche, die immer Stücke lesen und ins Theater gehen, die sind so.“ S. 36). Er wird durch ihre schwarze Augenklappe, den Kiepenhut, den zahnlosen Mund und ihr schmuddeliges Aussehen abgeschreckt („Sie sah aus wie gewöhnlich, Kiepenhut und eine schwarze Klappe über dem linken Auge“ S. 34). Aus diesem Grund eignet sie sich ausgezeichnet um durch Mathilde manipulativ eingesetzt zu werden. Sie benutzt die Runtschen um Hugo durch dieses Schreckbild beeinflussen zu können.
Des weiteren wirkt die alten Runtschen in modifizierter Hinsicht abschreckend auf Mutter Möhring. Die Runtschen stellt für sie eine Art lebendiges Schreckbild der Armut dar. Durch ihre soziale Abhängigkeit von anderen wird sie zur grauenvollen Zukunftsvision der Mutter Möhring. Die alte Runtschen verdient im fortgeschrittenen Alter ihren Lebensunterhalt damit, anderer Leute Nachttöpfe auszulehren. Mutter Möhring hat Angst ebenso zu enden.
So verkörpert die alte Runtschen außer den Ängsten der Mutter Möhring auch den untersten sozialen Grenzwert des vierten Standes (vgl. Hoffmeister S. 147).
Außer bei den Möhrings ist die alte Gepäckträgerfrau noch unter anderem bei der Leutnantswitwe Petermann beschäftigt. Nicht nur dort wird sie nach ihren Erlebnissen und den Begebenheiten bei ihren anderen Arbeitgebern ausgefragt. Sie gibt willig Antwort, um so für die anderen interessant zu sein, denn sie ist sich ihrer Informanten-Stellung bewusst.
Als Mathilde nach dem Tode Hugos wieder heim nach Berlin zu ihrer Mutter zurückkehrt wird sie von der Runtschen mit der Anrede Frau Burgemeister begrüßt, obwohl sie Mathilde schon seit Jahren kennt („<Gott, Frau Burgemeistern, wie soll es einem gehen>“ S. 98).
1.2.2 Rechnungsrat Schultze
Rechnungsrat Schultze verkörpert einen neureichen Bourgeoisen, der sein Geld erfolgreichen Spekulationen in der Gründerzeit zu verdanken hat. Mit 300 Talern erwirtschaftete er innerhalb zwei Jahren ein Vermögen, das insgesamt fünf Häuser beinhaltete. Selbst wohnte er mit seiner Frau in der Hochparterre-Wohnung seines Haus in der Georgenstraße.
Nach dem Tod des Vater Möhring hatte er die Befürchtung, dass diese Begebenheit sich negativ auf das Mietverhalten der Möhrings auswirken würde, ist aber mittlerweile von Fleiß und Bildung insbesondere von Mathilde Möhring beeindruckt („Manierlich, bescheiden, gebildet. … immer fleißig und grüßt sehr artig. Ein sehr gebildetes Mädchen.“ S.
.
Rechnungsrat Schultze definiert sich selbst über die Achtung die ihm andere entgegenbringen (vgl. Hoffmeister, S. 147):
An seiner Haustür befindet sich ein Messing-Aushängeschild mit Name, Adresse und Position des Hauswirts („Das Messingschild eine Treppe hoch war glänzend geputzt…“ S. 60). Dies hat die Funktion, dass alle die das Haus betreten direkt seine Position erkennen können.
Schultze zeigt sehr gerne die von ihm besessenen Reichtümer, so trägt er zur Verlobungsfeier Hugo und Mathildes, goldene Manschettenknöpfe („<Aber du hast seine großen Manschettenknöpfe immer angesehen, [und] weil er die zwei Steine vorne im Chemisette hatte…>“ S. 48).
Von der besseren Gesellschaft wird der neureiche Bourgeoise jedoch nicht als gleichwertig anerkannt. Unter anderem aus diesem Grund hält er engeren Kontakt zum Kleinbürgertum. Der weitere Vorteil dieses Umstandes ist, dass er in der Gegenwart der kleinen Leute umso größer wirkt und dies sein Ego erneut steigert.
Durch seine guten materiellen Verhältnisse erlaubt Rechnungsrat Schultze sich selbst eine größere sexuelle Freiheit. Als er bei der Verlobungsfeier Hugo und Mathildes am Tisch sitzt, erlaubt er sich sexuelle Anzüglichkeiten gegenüber der Verlobten Rybinskis („aber desto intimer mit Rybinskis Braut.“ S. 46).
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Schultze ein Mann ist, der sich durch sein Geld und die Achtung die ihm andere entgegenbringen definiert.
1.2.3 Schultzes Hausmädchen
Bei der Arbeit trägt die junge Frau ein kokettes Häubchen und eine Tändelschürze die der Rechnungsrat selbst ausgesucht hatte und obwohl sie lediglich als Hausmädchen der Schultzes beschäftigt ist und mit Sicherheit dort jede Menge unangenehme Arbeiten verrichten muss, zeigt sie sich dem Standesdünkel ihres Arbeitgebers angepasst (vgl. Hoffmeister, S. 147).
Als Hugo ihr im Hausflur beim Putzen begegnet grüßt sie „sehr artig, aber mit einem Gefühl von Überlegenheit über ihn oder eigentlich über Thilde.“ (S. 60f)
1.2.4 die Leutnantswitwe Petermann
Frau Petermann ist eine ältere Leutnantswitwe, deren Mann bereits im badischen Aufstand im Jahre 1849 gefallen ist (vgl. Hoffmeister S. 147). Sie hat ebenfalls nur eine kleine Pension zur Verfügung, hat aber gleichfalls die alte Runtschen zum Saubermachen bei sich beschäftigt. Auch bei ihr wird die Runtschen zur Informantin des Geschehens. So wird sie zum Beispiel von ihr nach der Verlobungsfeier Hugos und Mathildes gefragt („Und nu sagen Sie, Runtschen, wie war es eigentlich?“ S. 49).
Trotz ihrer Rente und ihrem Titel hat die ältere Frau keine Achtung und Respekt unter den Leuten. Mathilde hält die Witwe für ein neidisches altes und schnippisches Weib („aber sie hatte so was Schnippisches und sprach so gebildet, weil sie früher Schneiderin gewesen war, was nun keiner merken sollte.“ S. 44) die ihr den guten und hübschen Ehemann Hugo nicht gönnt („<Das is es, Runtschen, es ist nicht ganz richtig mit ihm…>“ S. 51).
1.2.5 Witwe Schmädicke
Die alte Witwe Schmädicke symbolisiert die zeitgenössische Spannung zwischen dem Kleinbürgertum und dem Proletariat. Sie geht ruppig mit anderen Menschen, insbesondere mit Menschen niedrigeren Standes um. Sie macht andere Kleiner ums selbst größer zu wirken („ <Die Schmädicke bedeutet nie was Gutes und kommt immer bloß aus Neugier oder aus Boßhaftigkeit und um einem armen Menschen einen Floh ins Ohr zu setzen.>“ S. 71). Ihre Angst ist es noch weitere soziale Deklassierungen auf sich nehmen zu müssen. Sie wird als ungebildet, neidisch, geizig und anzüglich dargestellt.
2. gut-bürgerliche und adelige Gesellschaft
2.1 Hugos Familie
2.1.1 Hugo Großmann
Hugo kommt als Jurastudent aus gutbürgerlichem Hause zu Familie Möhring um dort ein Chambre garnie zu beziehen. Schnell wird er von Mathilde, seiner späteren Ehefrau durchschaut („Er ist bloß faul und hat kein Feuer im Leibe…Und sentimental ist er auch.“ S. 18).
Hugo tritt als schöner junger Mann auf („und überhaupt so recht das, was gewöhnliche Menschen einen schönen Mann nennen.“ S.11), wird von Mathilde auch als solcher empfunden, jedoch ist sie sich im Klaren, dass alle schönen Männer schwach seien. Dies trifft voll auf Hugo zu, denn er ist körperlich schwach und willensschwach („Sieh, Mutter, mit einem schwachen Menschen ist eigentlich nicht recht was zu machen.“ S. 57) was sich in meiner weiteren Erarbeitung noch beweisen wird.
Hugo trägt einen Vollbart, der eigentlich Reife und Gesetztheit repräsentiert. Auf Hugo treffen diese Eigenschaften jedoch nicht zu, er benutzt den Bart lediglich um sich dahinter zu verstecken („Aber der Bart hatte unrecht, er war erst sechsundzwanzig,…“ S. 10).
Bereits als Hugo Großmann das Zimmer bei den Möhrings bezieht, interessiert er sich mehr für die Kunst des Schreibens und des Theaters als für sein Jurastudium („…lagen zwar ein paar dicke Bücher umher, aber sie hatten jeden Morgen eine dünne Staubdecke…was er las waren Romane, besonders auch Stücke.“ S. 26)
Hugo fürchtet sich, wie bereits erwähnt vor der alten Runtschen, da diese mit Kiepenhut aber ohne Zähne den empfindlichen Schönheitssinn des jungen Studenten stört („<…er ist so empfindlich in manchem und hat mir mal gesagt, er graule sich vor der Runtschen>“ S. 36).
Hugo hat keinerlei Vertrauen in sein Wissen oder Können („und hatte kein rechtes Vertrauen zu seinem Wissen und Können. <Ich bin ein unnützer Brotesser>“ S. 41), er hat Angst vor seinem ersten Staatsexamen besteht dieses aber nach eifrigem Lernen mit Mathildes Hilfe und durch eine Art Erpressung ihrerseits („Ich rechne darauf, daß du mir durch Arbeit den Beweis deiner Liebe gibst. Erst das Examen. Das andre findet sich. Da will ich schon Sorgen.“ S. 42). Ebenfalls Ängste empfindet er beim Gedanken an sein zweites Staatsexamen, vor dem er sich fürchtet und das er nie antreten wird.
Der schwache Hugo möchte in die irreale Welt der Kunst entfliehen. Dies ist insbesondere an seiner Affinität zur Vorführung der „Tochter der Luft“ ersichtlich. Die Tochter der Luft, die in ihren Vorführungen nicht den Boden berührt und Vorstellungen an Schaukel und Trapez zeigt, symbolisiert Hugos Unlust oder Unvermögen mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen („<Wenn ich solche schönen Personen durch die Luft fliegen sehe, bin ich benommen und eigentlich beinah glücklich.>“ S.60). Dieses Thema wird im Laufe des Romans zum Motiv.
Hugo bringt große Bewunderung für seinen besten Freund Rybinski auf, der dem bürgerlichen Leben entsagt hat und nun als Schauspieler arbeitet. Hugo würde ihm gerne gleich tun („was meinst du, zu welcher Rolle paßte ich wohl?“, S. 24), jedoch fehlen ihm Kraft und Mut hierzu. Des Weiteren braucht Hugo die Anerkennung durch die Gesellschaft und ist deshalb von ihr abhängig.
In Hugo steckt ein Verlangen irreale Berufe zu ergreifen („<Ich hätte doch wohl so was werden müssen, ausübender Künstler oder Luftschiffer oder irgendwas Phantastisches.>“ vgl. S. 60).
All diese Umstände deuten auf Hugos Flucht vor der Realität hin (S. 52).
Im Umgang mit Mathilde reagiert er zunächst etwas abweisend und auch standestypisch („ …Hugo vermied, nach dem zweiten Range hinaufzusehen.“ S.30).
Durch Mathildes Manipulationen kann sie ihn mit glücklicher Fügung bald für sich gewinnen und führt ihn so durch das erste Staatsexamen, in die Ehe und zum Posten des Bürgermeisters von Woldenstein. Währenddessen verhält Hugo sich ausschließlich passiv und möchte von Mathilde geführt werden. Hugo ist froh, dass sie ihm den bürgerlichen Weg zeigt („…eigentlich war er froh, daß jemand da war, der ihn nach links oder rechts dirigierte, wie´s grade paßte.“ S. 64). Jedoch ist Hugo sich der offensichtlichen Manipulationen Mathildes nur stückweise bewusst.
Zwar stellt Hugo Mathilde den Antrag zur Heirat, jedoch wurde er von Mathilde zuvor durch ihre Zuwendung während seiner Masernerkrankung so manipuliert und in diese Richtung gedrängt, dass er keine Wahl hat („In dieser Richtung gingen von Stund an Hugos Gedanken, … stand es bei Hugo fest, dass Thilde die Frau sei, die für ihn passe.“ S. 40).
Hugo weiß um der Tatsache, dass er mit der Heirat Mathildes eine Heirat unter Stand eingegangen ist („…gewiß, es waren einfache Menschen, etwas unter Stand, doch gut und ordentlich und zuverlässig, …“ S. 67).
Mathilde benutzt Hugo Großmann als Mittel zu sozialem Aufstieg. Es ist nicht bekannt ob sie ihn tatsächlich liebt oder ihn nur als Mittel zum Zweck betrachtet. Auch dem ist Hugo sich nicht bewusst. Wenn ein versuchter Kuss nicht erwidert wird, so neigt er dazu dies zu verharmlosen („…aber sie entwand sich ihm. An der Tür legte sie den Zeigefinger an die Lippen und grüßte zurück. <Alles an ihr ist so mädchenhaft>, sagte Hugo.“ S. 42; <… aber küssen ist nicht ihre Force.>“ S. 70).
Das erste Staatsexamen besteht Hugo nur mit Mathildes „Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode“, empfindet daher auch Ängste bei dem Gedanken an das zweite Staatsexamen („… und wenn er daran dachte, daß diese zweite Weghälfte notorisch viel, viel steiniger sei, so überkam ihn dasselbe Angstgefühl wieder, …“ S. 69). Jedoch kommt es gar nicht erst dazu, denn seine Frau Mathilde beschafft ihm durch Eifer eine Stelle als Bürgermeister im Ort Woldenstein. So wie er die Stelle erhält, so arbeitet er auch in Woldenstein: nur mit Hilfe seiner Frau. Wieder verhält er sich passiv und tut wie ihm geheißen.
Da sein Amt als Bürgermeister einen gewissen Grad an Seriösität von ihm verlangt, ist es ihm nicht möglich seiner Leidenschaft, der Kunst in vollem Maße nachzugehen. Als im Ort ein Theaterstück aufgeführt wird, beneidet er die Künstler und wird nachdenklich.
Die Schwäche Hugos wird außer im seelischen Bereich auch im körperlichen erkenntlich (vgl. Hoffmeister, S. 144). Bereits zu der Zeit als Hugo noch als Untermieter bei den Möhrings wohnt wird er von den Masern befallen und braucht längere Zeit um seine Krankheit zu überwinden („<Es sind die Masern.>“ S. 35). Als er später als Bürgermeister in Woldenstein an einer Lungenentzündung erkrankt, läuft er trotz Fiebrigkeit mit der Landrätin Schlittschuh, hierauf bricht die Krankheit endgültig aus. Einer längeren Krankheitsphase folgt ein kleines Hoch, das jedoch sofort einen Rückfall nach sich zieht und den Tod als Klimax fordert („…daß ein Rückfall da war. Er nahm in rapidem Verlauf die Form einer rapide fortschreitenden Schwindsucht an, und am zweiten Ostertag abends starb er…“ S. 94).
An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Schuld am Tode Hugos:
Hugo wurde bereits als schwacher Mann der dem Leben nicht gewachsen ist charakterisiert. Möglich ist, dass Mathilde ihn durch ihre Lenkung in den Beruf des Bürgermeisters stark überfordert hat und er dem Beruf und dem Leben nicht gewachsen war. Jedoch verspürt Hugo im Tode ein schlechtes Gewissen gegenüber Mathilde und spricht sie von aller Schuld frei („…denn die Bedenken einer frühen Zeit waren ganz verschwunden, und er sah in Thilde nichts als die rührige, kräftige Natur, die sein Leben bestimmt und das bißchen, was er war, durch ihre Kraft und Umsicht aus ihm gemacht hatte.“ S. 95).
Eine weitere Möglichkeit um die Schuldfrage an Hugos Tod zu klären, ist ein Aufkeimen alter Lust und Laster hierfür verantwortlich zu machen. Eine Konfrontation mit dem geliebten Theaterspiel und dem beschwingten Schlittschuhlaufen lässt ihn erkennen, dass in seinem Leben hierfür kein Platz mehr geblieben ist („…er war ein sehr guter Schlittschuhläufer und wollte sich in den Pausen als solcher zeigen.“ S. 88). Aus diesem Grunde erkennt er seine ausweglose Situation und resigniert. Gegen diese Theorie spricht allerdings dass Hugo in seinem Ende Zufriedenheit zeigt („…und ihr für ihre Tüchtigkeit, ihre Liebe und Pflege gedankt hatte.“ S. 94).
Ich persönlich denke, dass der Tod Hugos ein Ergebnis aus dem Zusammenfall mehrerer Faktoren ist.
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob er ohne das Eingreifen Mathildes in sein Leben denn glücklicher und länger gelebt hätte. Ohne Mathilde wäre ihm der Weg zurück ins bürgerliche Leben verwährt geblieben. Wahrscheinlich hätte er weder Staatsexamen noch Bürgermeistposten angetreten und sein Glück als Schauspieler versucht. Höchstwahrscheinlich wäre ihm ein Leben in den Fußstapfen Rybinskis nicht lange hold geblieben. Jedoch hätte dieser Schritt ihm den Weg zurück in die normale Gesellschaft auf ewig verwährt.
2.1.2 Vetter Architekt
Hugos Vetter tritt lediglich bei der Verlobungsfeier Hugos und Mathildes, sowie an deren Silvesterfest auf. Beruflich stehe er „zwischen Maurerpolier und Architekt“ (S. 45). Auf der Verlobungsfeier gibt er trotz seines hohen Intellekts („ein sonderbares, altes Genie“) zu erkennen, dass er den alkoholischen Genüssen sehr zugeneigt ist (vgl. Hoffmeister, S. 147f).
Seit langen Jahren lebt er mit einer Witwe zusammen. Dies sei ein Umstand der über sein Leben entschieden habe („seit zwanzig Jahren der Freund einer Witwe war (ein Umstand der, über sein Leben entschieden hatte)“ S. 45).
Auf der Verlobungsfeier selbst, hält er eine Rede auf das Brautpaar und vergleicht die Ehe mit seinem Maurerberuf („Den Toast auf das Brautpaar brachte der Vetter Architekt aus. …<Das Fundament, meine Herrschaften, ist die Liebe;…“ S. 46).
Vetter Architekt ist einer der wenigen Berliner Figuren, die nicht dem vierten Stand angehören, jedoch kommt der Nonkonformist durch seine Lebensumstände und seine Alkoholsucht schlecht weg.
2.1.3 Schwester Aurelie
Aurelie ist Hugos Schwester, taucht im Roman aber nie persönlich auf. Sie lebt am oberen Ende der sozialen Skala und wird durch Hugo als leicht zu berechnende Frau dargestellt, die auf Hugos Unterklassenvermählung mit dem typischen Standesdünkel reagiert („<…so wird sie die Nase rümpfen und von Philöse sprechen.>“ S. 59) und von stereotypem Standesbewusstsein geprägt ist.
2.2 Hans Rybinski
Rybinski wird als Parallelfigur zu Hugo Grossmann dargestellt. Er ist Hugos bester Freund und lebt Hugos Künstlertraum. Ohne Talent zu besitzen spielt er in Theateraufführungen lediglich sich selbst („…lachte beständig, wenn das Wort Talent fiel, und sagte, das gänzliche Fehlen davon sei es ja gerade, was ihr ihren Hans so unaussprechlich teuer mache…Als Kosinsky war er er selbst.“ S. 54), beziehungsweise Figuren, die seiner Persönlichkeit ähneln. Als Außenseiterfigur lebt Rybinski außerhalb der Normen der Gesellschaft: ebenso wie Vetter Architekt und Hugo (partiell) ist Rybinski ein Nonkonformist. Als leidenschaftlicher Bohemien nimmt er als Adliger jedoch keine Rücksicht auf seinen Stand („Ruhm geht über Adel.“ S. 24). Er strebt nach seinem eigenen Glück und nimmt auf seinem Weg dorthin wenig Rücksicht auf andere (vgl. Hoffmeister, S. 148). So hat er ständig wechselnde Freundinnen, mit denen es ihm zunächst immer ernst zu sein scheint, deren Beziehungen aber nie langen halten („<Bist du denn verlobt?> … <O ja…Aber natürlich kann auch so was wieder zurückgehn, und wenn du mal so was hören solltest…>“ S. 45).
Rybinski versuch Hugo wiederholt den Sprung vom bürgerlichen ins Künstlerleben schmackhaft zu machen („Laß doch die Einpaukerei. Alles umsonst. Ich kenne meine Pappenheimer.“ S. 25)
Rybinski ist von Anfang an gegen die Heirat Hugos mit der gesellschaftlich niedriger stehenden Mathilde Möhring. Es ist ihm bewusst, dass Hugo damit eine Heirat unter Stand einginge und versucht ihn davon abzubringen („Frau Möhring ist eine Philöse, und das Fräulein ist ihre Tochter…So weit sind wir doch noch nicht runter.“ S. 25).
Bei einer Aufführung in der er mitspielt überlässt Rybinski den Möhrings Theaterkarten für den zweiten Rang, obwohl es ihm möglich gewesen wäre für die Möhrings Theaterkarten ersten Ranges neben Hugo Großmann zu besorgen („Ich hätte dir auch drei Parquets bringen können.“ S. 27). Dies hätte sich dann jedoch wie gesellschaftliche Gleichstellung angesehen, was Rybinski zu vermeiden sucht („Das ist doch wie gesellschaftliche Gleichstellung.“ S. 29).
Ebenfalls kommt hinzu, dass Rybinski wiederholt abfallend über Familie Möhring und insbesondere über Mathilde spricht (…für deine Damen drüben, wenn sie auf diesen Namen hören, was mir allerdings zweifelhaft ist.“ S. 27).
Obwohl Rybinski sich durch sein Verhalten von den Normen seiner Gesellschaftsschicht losgesagt hat, möchte er trotzdem nicht mit Menschen des vierten Standes gleichrangig sein oder sich mit ihnen solidarisch zeigen. Vielmehr ist er der Freundschaft mit Hugo, dem Sohn aus gutbürgerlichem Haus zugetan. Solche Freundschaften sind in der Gesellschaft des ausklingenden 19. Jahrhunderts keine Seltenheit und so steht diese hier symbolisch für die Solidarität, die der niedere Adel dem gehobenen Bürgertum entgegenbringt.
Mathilde erkennt Rybinski aufgrund seiner Einstellung zu seinen gesellschaftlichen Ehren und Pflichten als Gefahr für ihre Pläne („Rybinski war eine Gefahr, noch dazu eine komplizierte.“ S.51). Jedoch möchte sie Rybinski einsetzen um ihn als „Belohnung“ für einen braven Hugo nutzen zu können, ohne jedoch allzu engen Kontakt zwischen Hugo und Rybinski zuzulassen ( „… weil sie eindeutig einsah, daß sie zur Erreichung ihrer Zwecke der Fortdauer guter Beziehungen zu Rybinski durchaus bedurfte….daß sie so was wie Zuckerbrot beständig in Reserve haben müsse,…“ S. 51).
III Fazit
In Fontanes Roman „Mathilde Möhring“ dominiert so stark wie in keinem anderen die erzählerische Ausgestaltung der Verhältnisse der `kleinen Leute´. In diesem Roman trifft Fontane die Sorgen und Nöte des Kleinbürgertums des ausklingenden 19. Jahrhunderts von all seinen Werken am ehesten (Hoffmeister, S. 129). Es wird jedoch nicht nur ein kollektives Bürgertum gezeigt, sondern werden gar die kleinen Nebencharaktere sehr bedeutungsvoll dargestellt und in Kontrast oder in Parallele zu den Hauptfiguren/ der Hauptfigur gesetzt (Hoffmeister, S. 127).
Und obwohl die meisten Nebenfiguren nur in wenigen Szenen des Romans auftauchen, versteht Fontane es „mit wenigen dominierenden Charakterzügen…eine gesellschaftliche Haltung durchscheinen zu lassen“ (vgl. Hoffmeister, S. 148).
Das Besondere an diesem Roman Fontanes ist, dass er hier die moralischen und mehr oder minder erfolgreich kämpfenden Bürger des vierten Standes in Kontrast stellt zu der gutbürgerlichen und adeligen Gesellschaft. Jedoch ist es so, dass gerade diese `gute´ Gesellschaft eher schlecht davon kommt. Die Bürger werden als verträumt und zu stark den Genüssen des Lebens zugetan charakterisiert, handele es sich hierbei um Alkohol, Liebe oder die Kunst (vgl. Hoffmeister S. 144).
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Fontane, Theodor: Mathilde Möhring. München (dtv). 2003
Sekundärliteratur:
Aust, Hugo: „Mathilde Möhring“. Die Kunst des Rechnens. Aus: Grawe, Christian (Hrsg.): Fontanes Novellen und Romane. Interpretationen. Stuttgart (Reclam) 1991. S. 275-295.
Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen, Basel (Francke) 1998.
Hoffmeister, Werner: Theodor Fontanes „Mathilde Möhring“: Milieustudie oder Gesellschaftsroman? In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 92. Jg. . 1973 (Sonderheft), S. 129- 149.